Jack Ross - Der Betrug

Jack hatte die Orientierung längst verloren. Mühsam schleppte er sich voran. Weiter. Immer weiter. Quer durch den Wald. Die Polizeisirenen waren seit einer geraumen Weile verstummt. Auch die Silvesterraketen waren verklungen. Nur das Knacken der Äste unter Jacks Schuhen, sein keuchender Atem und ab und zu das ferne Grollen eines Donners waren zu hören. Ein Gewitter war im Anzug. Wie lange Jack bereits durch die Dunkelheit irrte, wusste er nicht. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Und mit jeder Minute fühlte sich der Siebzehnjährige schwächer. Warmes Blut tropfte von seinem linken Arm. Die Schmerzen in seiner linken Schulter, ausgelöst durch eine Schusswunde, waren kaum noch auszuhalten.

Ein Blitz durchzuckte den Nachthimmel, gefolgt von einem krachenden Donnerschlag. Wenig später fielen die ersten Regentropfen. Jack rannte weiter. Der Regen wurde stärker. Innerhalb weniger Sekunden regnete es in Strömen, gerade so, als hätte jemand die Schleusen des Himmels geöffnet. Jacks T-Shirt klebte ihm am Leib. Er stolperte, fing sich jedoch wieder, hielt sich mit der rechten Hand den linken Arm und lief weiter. Er spürte, wie seine Augen schwer wurden. Eine seltsame Schlaffheit überkam ihn. Er wollte sich hinlegen und die Augen für einen Moment schließen. Nur für einen kurzen Moment. Doch er wusste, dass er das nicht tun durfte, und zwang sich weiterzugehen.

Schließlich erreichte Jack eine Schotterstraße. Es goss wie aus Kübeln, trotzdem blieb er auf der Straße stehen und ließ seinen Blick in beide Richtungen schweifen. Weit und breit war keine Sterbensseele zu sehen. Es gab nur Bäume, so weit das Auge reichte. Er drehte sich nach rechts, nach links, wieder nach rechts – und dann erschauerte er. Im fahlen Licht, nur ein paar Meter von ihm entfernt, stand plötzlich ein Mädchen auf der Straße – patschnass. Lange, dunkelblonde Haare fielen ihr in Strähnen ins Gesicht fielen. Sie war barfuß und nur mit einem weißen Nachthemd bekleidet, das über und über mit Blut besudelt war. Das Mädchen sah aus wie ein Gespenst. Jack wusste nicht, woher es gekommen war, noch, was es hier mitten in der Nacht verloren hatte. Es rührte sich nicht von der Stelle, stand einfach nur da und sah ihn an.

„Hallo?“, sagte Jack und machte vorsichtig einen Schritt auf das Mädchen zu. „Hallo?!“

Es sagte kein Wort. Es verzog keine Miene. Ein Blitz erleuchtete die Landschaft und tauchte das Gesicht des Mädchens für den Bruchteil einer Sekunde in ein grelles Licht. Im selben Moment glaubte Jack, sein Herz müsste stillstehen.

„Karen!“, hauchte er fassungslos.

Das Mädchen reagierte nicht. Langsam, ohne ihn aus den Augen zu lassen, hob es den rechten Arm und deutete mit dem Zeigefinger auf ihn. Jack stand wie angewurzelt da. Er konnte sich nicht bewegen. Seine Füße waren wie aus Blei. Wieder erhellte ein blendend weißer Blitz den Himmel, anschließend ertönte ein gewaltiger Donnerschlag. Jack merkte, wie ihn seine Kräfte verließen. Alles begann, sich zu drehen. Sein Blick verschleierte sich. Das Mädchen und der Wald verschmolzen zu einem einzigen dunklen Fleck. Jack blinzelte. Er versuchte verzweifelt, gegen das ansteigende Ohnmachtsgefühl anzukämpfen, doch es gelang ihm nicht.

Er knickte ein und sank lautlos zu Boden.

........

Jenny sah auf. Ein älterer afroamerikanischer Mann mit grau meliertem Haar und einem grauen, stoppeligen Bart stand vor ihr. Er war schlank, trug einen blauen Arbeitsoverall und stützte sich auf einen Wischmopp. Seine braunen Augen strahlten eine unglaubliche Ruhe und Zufriedenheit aus. Jenny hatte den Mann nicht kommen hören.

„Oh“, sagte Jenny verlegen und zwang sich ein Lächeln ab. „Ich hab wohl laut gedacht, tut mir leid.“

„Das muss dir nicht leidtun, Jenny.“

Sie sah den fremden Mann perplex an. „Kennen wir uns?“

„Mein Name ist Wilson, Mr Wilson“, stellte sich der Mann mit einer kleinen Verbeugung vor. „Ich bin der Hausmeister hier.“

„Ich wusste gar nicht, dass wir einen Hausmeister haben.“

„Das wissen die wenigsten“, sagte er, ohne Jenny aus den Augen zu lassen. „Du siehst ziemlich blass aus. Hast du ein Gespenst gesehen?“

„Mit Federnhut und Degen“, bestätigte Jenny, mehr zu sich selbst als zu Mr Wilson.

„Hmm“, stellte der Hausmeister fest und kratzte sich nachdenklich seinen Stoppelbart. „Interessant. Erst Jack und jetzt du.“

Bei diesen Worten zuckte Jenny kaum merklich zusammen. „Wovon reden Sie?“

„Na, von deiner Vision“, antwortete er wie selbstverständlich. „Von den Dingen, die du gesehen hast, obwohl niemand sonst sie gesehen hat. Deswegen bist du doch hier, hab ich recht?“

Jenny schluckte. „Woher ... woher wissen Sie das?“

Der schwarze Mann zuckte die Achseln. „Ich weiß so einiges, das dich überraschen würde. Aber darum geht es nicht. Es geht darum, was du gesehen hast und was es bedeutet.“

Jenny starrte den Hausmeister fassungslos an. Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Ihr Herz raste. „Wer sind Sie?“

„Ich dachte, ich hätte mich bereits vorgestellt. Ich mache hier gelegentlich sauber.“

„Wie kommt es dann, dass wir uns noch nie begegnet sind?“

„Oh, das sind wir. Du warst nur zu beschäftigt, um mich wahrzunehmen.“

Jenny musterte den alten Mann kritisch. Sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, ihn je auf dem Schulgelände gesehen zu haben. Und warum wusste er so viel?

Mr Wilson nahm seinen Mopp und begann damit in regelmäßigen Bögen den Boden zu wischen. „Ich weiß, du hast viele Fragen. Und nicht auf alle wirst du von heute auf morgen eine Antwort finden. Aber eines kann ich dir versichern, mein Kind.“ Er blickte Jenny fürsorglich an. „Du bist nicht verrückt.“

Ein bitteres Lachen kam aus Jennys Kehle. „Nicht verrückt? Ich halluziniere am helllichten Tag und fummle mit einer Krücke vor Sergeant Jones’ Kopf herum, weil ich ihn für Captain Hook halte, und Sie wollen mir einreden, ich sei nicht verrückt?“

Der Hausmeister hielt inne und zog verblüfft die Augenbrauen hoch. „Du bist Captain Hook begegnet?“

„Sehen Sie? Jetzt halten Sie mich auch für verrückt!“

„Durchaus nicht. Die Frage ist, was es zu bedeuten hat.“

„Was es zu bedeuten hat?“, rief Jenny. „Es bedeutet, dass ich nicht mehr in der Lage bin, zwischen Realität und Fiktion zu unterscheiden!“

„Oberflächlich betrachtet vielleicht ja“, sagte Mr Wilson äußerst gelassen, während er seinen Mopp wie einen überdimensionalen Pinsel über den Boden gleiten ließ, als würde er ein Bild malen. „Aber wenn es dir gelingt, das Oberflächliche zu durchbrechen, wird sich dir eine völlig neue Dimension eröffnen.“

„Wie meinen Sie das?“

Der Hausmeister hörte auf zu putzen und sah Jenny an. „Weißt du, was ein Magic-Eye-Bild ist?“ Jenny schüttelte den Kopf. „Ich bin sicher, du hast schon welche gesehen. Magic-Eye-Bilder sind computererzeugte Grafiken, die bei längerem Hinsehen dreidimensional erscheinen. Auf den ersten Blick sind es nichts weiter als aneinandergereihte Muster oder Figuren. Zum Beispiel ist das ganze Bild voller springender Delfine, Kornblumen und Taschenuhren. Doch dann, wenn du das Bild lange genug anstarrst und sozusagen durch die Delfine und Kornblumen und Taschenuhren hindurchblickst, entdeckst du plötzlich ein 3-D-Objekt in dem Muster. Es braucht etwas Übung, um die versteckten Bilder herauszufiltern, doch je geschulter das Auge ist, desto schneller geht es.“

„Und was hat das mit mir zu tun?“

„Das, was du siehst, ist nicht zwingend das, was es ist. Menschen neigen dazu, die Dinge oberflächlich zu betrachten. Doch um die Wahrheit zu erkennen, muss man tiefer graben. Du musst lernen, mit dem Herzen zu sehen, nicht mit den Augen.“

Jenny hörte dem Hausmeister wie gebannt zu. Er sprach mit Überzeugung, so als wäre er ein Experte auf diesem Gebiet. Und irgendwie hatte Jenny das Gefühl, als könnte sie ihm vertrauen.

„Schärfe deinen Blick, Jenny“, sagte er. „Schau durch die Kornblumen hindurch. Und zu gegebener Zeit wirst du das verborgene 3-D-Bild gestochen scharf vor dir sehen.“ Er nahm seinen Wischmopp und ging zur Tür. Die Hand bereits auf der Klinke, drehte er sich nochmals um, als hätte er etwas Wichtiges vergessen. „Ach, und wenn du jemanden zum Reden brauchst: Ich wohne in der kleinen Dachwohnung im Gebäude für Naturwissenschaften.“

„Ich dachte, die Wohnung stehe leer“, wunderte sich Jenny.

„Manchmal tut es gut, die Dinge loszuwerden, die einen beschäftigen“, antwortete der Mann, ohne auf ihre Äußerung einzugehen. „Jack war übrigens auch schon da, um sich mit mir über seine Visionen zu unterhalten.“

Jennys Puls kletterte erneut schlagartig in die Höhe. Schon wieder erwähnte der Mann Jack. Und schon wieder erwähnte er im gleichen Atemzug das Wort Visionen. Offenbar war sie nicht die Einzige, der sich Jack anvertraut hatte. Sie erinnerte sich noch sehr gut an ihr letztes Gespräch mit Jack nach ihrer Befreiung aus den Händen der Entführer, kurz bevor er mit seiner verletzten Schulter in den Wald gerannt war. Er habe Visionen, hatte er ihr gestanden. Er sehe manchmal in die Zukunft. Verschlüsselt zwar, aber er sehe es. Sie hatte nicht wirklich etwas damit anfangen können. Aber jetzt ... jetzt schien es auf einmal einen Sinn zu ergeben, wenn auch einen sehr beunruhigenden.