Jack Ross - Die Entführung

Jack fühlte sich elend. Er konnte einfach nicht glauben, dass es schon wieder passiert war. Schon wieder! Er hatte gedacht, es sei vorbei. Er sei die Trugbilder endlich los! Von wegen! Noch nicht mal vierundzwanzig Stunden war er im Jugendgefängnis von Thomasville, und schon hatte der Spuk wieder begonnen. Mitten in der Mensa! Ausgerechnet dort, wo man als Neuer sowieso von allen Seiten angeglotzt wurde und eigentlich versuchen sollte, so wenig Aufmerksamkeit wie möglich auf sich zu lenken. Die Götter, Gott, das Schicksal oder was auch immer hatten es ganz eindeutig auf ihn abgesehen. Und Jack fand das überhaupt nicht lustig.

Eigentlich hatte sich der Siebzehnjährige an seinem ersten Knasttag ganz unauffällig in eine Ecke des Speisesaals verkriechen wollen. Er hatte sich mit seinem Esstablett an der Meute vorbeigeschlängelt und sich einen freien Platz gesucht. Wie an der Highschool saßen die Jugendlichen auch hier in ihren Cliquen zusammen, und wer nicht dazugehörte, durfte sich auch nicht an ihren Tisch setzen. Nur funktionierte die Gruppenaufteilung im Knast etwas anders als in der Schule. Hier gab es keine Cheerleader-, Basketballer- oder Strebergrüppchen. Es war viel eher eine Blutsfrage. Die drei stärksten Cliquen waren die Latinos, die Schwarzen und die Neonazis. Wer keiner dieser Cliquen angehörte, musste ständig auf der Hut sein, um es sich nicht mit der einen oder anderen Rasse zu verscherzen. Jack war weder darauf erpicht, sich bei einer der Banden einzuschmeicheln, noch, sich Feinde zu schaffen. Er wollte einfach in aller Ruhe seine Zeit absitzen, mehr nicht. Also hatte er sich alleine an einen Tisch gesetzt, das Getuschel und die misstrauischen, teils sogar finsteren Blicke der anderen Jungs ignoriert und zu essen begonnen. Es gab Kartoffelbrei und verkochte Karotten.

Und dann war es geschehen: Gerade, als er eine große Portion Kartoffelpüree in sich hineingeschaufelt hatte, hallten plötzlich panische Schreie durch die Halle. Jäh hob Jack den Blick, und im selben Moment raste sein Puls in die Höhe und Schweißperlen traten ihm auf die Stirn: Die Mensa war weg. Die Gefangenen auch. Stattdessen befand er sich in einer noblen Lobby mit spiegelblankem Marmorboden und hohen Säulen. Und mittendrin stand ein maskierter Mann und richtete die Waffe direkt auf seinen Kopf. Jack erstarrte. Er glaubte, sein Blut müsste in den Adern gefrieren. Langsam hob er die Hände und blickte mit schreckensbleichem Gesicht in die Mündung der Faustfeuerwaffe.

Oh Gott, nein!, dachte er, als er sah, wie der Finger am Abzug sich bewegte. Doch es war zu spät. Ein Schuss fiel. Und dann wurde alles schwarz.

Als Jack wieder das Bewusstsein erlangte, hörte er von überall her schallendes Gelächter. Er lag auf dem Boden, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, als hätte er sich soeben vor einer Explosion in Sicherheit gebracht. Das umgekippte Essenstablett lag auf seinem Rücken, und an seiner hellblauen Gefängnisuniform, in seinem Gesicht und in seinen schwarzen Haaren klebten Kartoffelbrei und Karotten. Der Tee war ebenfalls verschüttet, und fast die ganze rechte Hälfte des blauen Overalls war nass.

Was um alles in der Welt ...

Ein Junge mit strohblondem Haar kniete vor ihm und blickte ihn mit großen Augen an. „Alles in Ordnung mit dir?“

Anstatt ihm eine Antwort zu geben, raffte sich Jack vom Boden auf, wischte sich das Püree aus dem Gesicht und sammelte hastig das Geschirr auf. Er setzte sich zurück an den Tisch und wäre am liebsten vor Scham in einer Erdspalte verschwunden.

Das darf doch nicht wahr sein!, schoss es ihm durch den Kopf, als es ihm dämmerte, was hier soeben passiert war. Nicht schon wieder! Bitte nicht!

Die Insassen hielten sich die Bäuche vor Lachen.

„Caramba! Que loco ! (Vielleicht ersetzen mit: Was war das denn?)“, rief einer aus der Latinogruppe.

„Hey, wusste gar nicht, dass wir so gefährlich aussehen!“, grölte ein kräftiger kahlrasierter Bursche von der Seite der Neonazis.

„Möchte ja sehen, was er tut, wenn ihm jemand eine richtige Knarre ins

Gesicht hält!“, spottete einer von den Afroamerikanern.

„RUHE!“ Das war der diensthabende Aufseher, ein gewisser Mr. Woolf, ein mittelgroßer Mann mit knochigem, unfreundlichem Gesicht, der aussah, als würde er am liebsten allen eins mit dem Gummiknüppel überbraten. „RUHE DIE HERRSCHAFTEN! RUHE HAB ICH GESAGT!“

Die Lachsalven verebbten, und die Jugendlichen beugten sich gehorsam über ihre Teller zurück. Mr. Woolf kam auf Jack zu und reichte ihm steif ein paar Servietten. „Hier, Kakerlake. Damit du dich sauber machen kannst. Und anschließend wischst du die Sauerei weg. Der Mopp steht da drüben.“

Jack nahm die Papierservietten wortlos entgegen. Aus den Augenwinkeln konnte er sehen, wie die anderen Gefangenen verstohlen zu ihm herüberschielten und sich gegenseitig Bemerkungen ins Ohr flüsterten. Auch wenn er nicht hören konnte, was sie sagten, war ihm ziemlich klar, worüber sie redeten.

So ein Mist, dachte Jack. Der erste Tag, und schon bist du zum Gespött des ganzen Jugendarrests geworden. Gott, hören diese Visionen denn nie auf?

„Ignorier sie einfach“, sagte da eine helle Stimme.

Jack blickte auf. Ihm gegenüber hatte ein Junge Platz genommen. Es war derselbe Junge, der ihn vorhin gefragt hatte, ob alles in Ordnung sei. Er mochte ungefähr in seinem Alter sein, war schlank, hatte blondes, kurzes Haar und eine Menge Pickel im Gesicht.

„Was?“, fragte Jack verwirrt.

„Die Insassen, ignorier sie einfach“, wiederholte der Junge und streckte ihm die Hand entgegen. Jack fiel auf, dass der Pickeljunge mehrere neonfarbige Armbändchen an seinem rechten Handgelenk trug, auf denen die merkwürdige Abkürzung „W.W.J.D.“ stand. Auf der Innenseite seines linken Unterarms befand sich ein Tattoo, bestehend aus zwei sich überschneidenden halbkreisförmigen Linien. Es sah aus wie selbstgemacht.

„Dominik“, stellte sich der Junge vor. „Ein paar nennen mich Dikki, aber eigentlich hab ich es lieber, wenn man mich Dominik nennt. Und du musst Jack sein, der Neue. Du kommst auf meine Zelle, hat man mir gesagt.“ Jack ergriff seine Hand nicht. Er war damit beschäftigt, die Karotten aus dem Haar zu suchen.

„Hey, wenn du willst, können wir teilen“, bot ihm Dominik an und schob sein Essenstablett in die Mitte des Tisches. Als Jack nicht darauf reagierte, zuckte Dominik die Achseln, faltete die Hände und senkte seinen Kopf. Er bewegte die Lippen, als spräche er irgendeine Zauberformel. Jack sah ihm etwas verwundert dabei zu.

„Redest du etwa mit deinem Essen?“, fragte er, als Dominik das seltsame Ritual beendet hatte.

„Nein, mit meinem himmlischen Vater“, antwortete der mit weiser Miene. „Ich danke ihm für das Essen.“

„Ah“, meinte Jack. Das kann ja heiter werden, dachte er. Jetzt stecken sie mich auch noch zu einem Verrückten in die Zelle.

„Warum bist du hier?“, fragte ihn Dominik neugierig und schaufelte eine große Portion Karotten in sich hinein.

„Das geht dich nichts an“, gab ihm Jack zur Antwort.

„Ich hab ein Jahr wegen Ladendiebstahl gekriegt“, gab Dominik den Grund seiner Inhaftierung preis, ohne weiter bei Jack nachzubohren. „War eine total bescheuerte Sache, und eigentlich habe ich nur Schmiere gestanden. Aber das hat den Richter nicht die Spur interessiert. Mitgegangen, mitgehangen, wie es so schön heißt. Übrigens,“ er deutete mit einem unauffälligen Blick zu einer Gruppe kahlköpfiger Gefangener hinüber, „du kannst von Glück reden, dass du nicht bei den Neonazis einquartiert worden bist. Du bist doch kein Neonazi, oder? Der da drüben, der Glatzköpfige mit dem Hakenkreuztattoo am Hals, der am lautesten gespottet hat, ist Pitbull. Drogenhandel. Er hat das Sagen hier drin. Vor dem nimmst du dich besser in Acht. Bei den Latinos hat Chico das Kommando. Du erkennst ihn leicht an der breiten Narbe im Gesicht. Er sitzt wegen einer Messerstecherei. Ziemlich impulsiver Kerl, leicht reizbar. Also geh ihm besser aus dem Weg. Und die Schwarzen solltest du sowieso meiden. Die nehmen immer gleich alles persönlich und suchen ständig irgendeinen Grund, jemanden zu verprügeln. Ihr Wortführer ist ein Typ namens Jimmy, sitzt wegen Raubüberfall. Also, im Grunde fährst du am besten, wenn du dich mit keinem von denen anlegst. Nicht zu vergessen Mr. Woolf, der Chef der Aufseher. Ein richtiger Sadist, sag ich dir. Liebt es, uns nach Lust und Laune zu schikanieren. Übler Kerl. Sag mal, hast du wirklich keinen Hunger? Die Karotten sind etwas versalzen, aber sonst ganz o. k. Willst du probieren?“

Jack schüttelte den Kopf. „Keinen Appetit.“

„Ich will ja nicht aufdringlich sein“, meinte Dominik und stopfte sich eine gehäufte Gabel Kartoffelbrei in den Mund. „Aber was war das eigentlich vorhin?“

„Nichts“, entgegnete Jack. Er hatte keine Lust, darüber zu reden. Es war ihm peinlich, und außerdem wusste er nicht einmal selbst, was für eine Show er eigentlich abgezogen hatte.

„Das sah aber gar nicht nach nichts aus“, plapperte Dominik weiter und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Ich meine – hallo? Du hast mitten im Speisesaal die Hände gehoben, als würde dich einer mit ’ner Waffe bedrohen. Und plötzlich bist du auf den Boden gehechtet wie ein Irrer, als hätte jemand eine Handgranate nach dir geworfen. Das ist doch nicht normal.“

„Mit seinem Essen zu reden, das ist nicht normal“, hatte Jack kratzig erwidert. Dann hatte er sich erhoben und war zielstrebig durch den Esssaal gegangen, um den Wischmopp zu holen. Aber im Grunde hatte er einfach nur weg gewollt. Was war bloß los mit ihm? Warum um alles in der Welt sah er einen maskierten Mann, der eine Kanone auf ihn richtete – und abdrückte?! Was hatte das nur zu bedeuten? Hatte er jetzt komplett den Verstand verloren?

Jenny stocherte mit der Gabel lustlos in ihrem Salat herum, den Kopf auf die linke Hand gestützt, und war mit ihren Gedanken woanders.

Jack. Immerzu musste sie an ihn denken. Gerade mal drei Wochen war es her, seit sie ihn zum ersten Mal in der Mensa der privaten Highschool St. Dominic’s gesehen hatte. Schwarzes, mit Gel zurückgekämmtes Haar. Sportlich schlank. Grüne Augen. Und ein Blick, in dem sie sich hätte verlieren können. Seither war sie hoffnungslos in ihn verliebt, obwohl sie ihm nie etwas von ihren Gefühlen erzählt hatte. Denn kaum stand er vor ihr, bekam sie weiche Knie und brachte keinen vernünftigen Satz mehr heraus. Sie hätte sich dafür ohrfeigen können. Jede Gelegenheit, die sich ihr geboten hatte, um ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen, war in die Hosen gegangen. Und jetzt war er fort. Und wahrscheinlich würde er nicht zurückkehren. Mrs. Jackson, die Biologielehrerin, hatte ihr heute Mittag nach dem Unterricht anvertraut, man habe ihn in die Jugendarrestanstalt nach Thomasville gebracht. Weswegen, wusste sie nicht. Und auch nicht für wie lange. Jenny schnürte es noch immer die Kehle zu, wenn sie an Freitag zurückdachte. Ein Mann, der ausgesehen hatte wie ein FBI-Agent aus irgendeinem Spionagefilm, war gekommen und hatte Jack mitgenommen. Und sie hatte nichts tun können, um ihn daran zu hindern. Es war furchtbar gewesen. Das ganze Wochenende hatte sie an nichts anderes denken können. Und jetzt, als sie wusste, dass Jack im Gefängnis war, fühlte sie sich noch elender als zuvor. Ob sie ihn jemals wiedersehen würde?

„Jenny, Liebling, reichst du mir mal das Salz?“

Jenny sah auf. Ihre Mutter, Mrs. Rose Lamoure, eine schlanke Frau mit dunkelblonder, stets perfekt sitzender Dauerwelle und rosa gepuderten Wangen, blickte zu ihr herüber. „Den Salzstreuer, bitte“, wiederholte sie ungeduldig, und als Jenny ihn ihr gab, fügte sie mit bedeutungsvollem

Augenaufschlag hinzu: „Heute beim Friseur hat mich schon wieder jemand darauf angesprochen, warum du letzte Woche nicht zur Benefizgala gekommen bist, Jenny.“

Jenny seufzte. „Mom, können wir die Geschichte nicht endlich abhaken? Du weißt, warum ich nicht gekommen bin. Ich hasse solche Veranstaltungen. Alle tun, als spendeten sie Geld für eine gute Sache, dabei geht es doch nur darum, von allen gesehen zu werden.“

„Also, ich fand’s toll!“, flötete Tanja, Jennys Zwillingsschwester, während sie mit der Gabel ein paar Erbsen aufspießte. „Aber du hättest sowieso nicht in diese feine Gesellschaft reingepasst, Jenny. Ich wette, du bist stattdessen in Bart’s Café gewesen und hast gehofft, Jack würde vorbeischauen.“

„Wer ist Jack?“, fragte die Mutter.

„Niemand“, sagte Jenny rasch und durchbohrte Tanja mit einem Blick, als wollte sie sie für diese Anspielung erwürgen. Jenny und Tanja waren Zwillingsschwestern, aber keine eineiigen. Sie waren grundverschieden, sowohl in ihrem Aussehen als auch in ihren Ansichten. Während Jenny sich von allem distanzierte, was mit Prunk und High Society zu tun hatte und sogar demonstrativ mit dem Fahrrad zur Schule fuhr, war Tanja das heiß begehrteste Mädchen an der Schule und legte großen Wert auf ihr Äußeres. Sie war bildhübsch, hatte die perfekte Figur, blondes, seidiges Haar und führte das Cheerleaderteam der Tigers an. Auch Jenny war überaus attraktiv, bloß trug sie es nicht so offen zur Schau wie ihre Schwester. Sie war schlank, hatte dunkelbraunes, leicht gewelltes Haar und strahlend blaue Augen.

„Sind wir jetzt durch mit dem Thema?“, fragte Jenny genervt, bevor ihre Mutter noch mehr Fragen stellte, die sie nicht beantworten wollte. „Wen kümmert’s, ob mein Platz bei der Benefizgala leer war oder nicht? Außerdem hat Dad es mir ausdrücklich erlaubt, zu Hause zu bleiben.“

„Ja, damit ich nicht den ganzen Abend deine saure Miene ertragen musste“, sagte Jennys Vater, Mr. Bernard Lamoure, ein mittelgroßer Mann mit glattem dunkelbraunem Haar und Brille, und sah Jenny streng an. „Ich kenn dich doch. Am Ende hättest du allen einen Vortrag über die schmelzenden Polkappen gehalten und für deine lächerlichen Umweltaktionen geworben.“

„Dad, meine Aktionen sind nicht lächerlich!“

Jenny hasste es, wenn ihr Vater sich über ihren Aktivismus lustig machte. Sie setzte sich für die Umwelt ein, für die Natur, für vom Aussterben bedrohte Tiere, für jede Art von Ungerechtigkeit gegenüber Gottes Schöpfung. Aber ihr Vater und eigentlich ihre ganze Familie hatte nicht viel für ihre Leidenschaft übrig. Es passte einfach nicht zu ihrem luxuriösen Lebensstil. Immerhin waren die Lamoures die reichste Familie in Green Valley. Sie hatten mehrere Bedienstete und lebten in einer modernen Villa oben auf dem Hügel. Das prachtvolle Gebäude ragte wie ein Amboss über einen gewaltigen Felsen und war wegen seiner riesigen Fensterfront in der ganzen Gegend nur als „gläserne Villa“ bekannt. Mr. Lamoure war Inhaber der „Lamoure Investment Bank“ und besaß sogar einen eigenen BusinessJet der Marke Cessna Citation, mit dem er von einem Geschäftstreffen zum nächsten flog. Er war nur selten zu Hause, und wenn, dann hatte Jenny das Gefühl, als wäre er trotzdem nicht da.

Jennys Vater tupfte sich mit der Serviette den Mund. „Jenny, dein Idealismus in Ehren, aber die Welt da draußen funktioniert nun mal nach etwas anderen Prinzipien als nach deinen. Es ist alles eine Frage von Leistung und Gegenleistung. Von Aufwand und Ertrag. Es ist eine simple Gleichung: Wenn ich eine Investition mache, will ich sichergehen, dass sich die Sache auch für mich lohnt. Sonst verschwende ich bloß meine Zeit und mein Geld.“

„Sich für das einzusetzen, woran man glaubt, hat keinen Preis, Dad.“

„Alles hat seinen Preis, glaub mir.“ Mr. Lamoure nahm einen Schluck Wein. „Irgendwann wirst du verstehen, wovon ich rede.“ Er wandte sich dem Butler zu. „Sie können dann abräumen, Gordon.“

Der Butler machte eine kleine Verbeugung und sagte: „Sehr wohl, Sir. Wünschen Sie noch ein Dessert oder einen Espresso?“

„Heute nur einen Espresso“, sagte Mr. Lamoure und schob sich seine Brille auf die Nasenwurzel hoch. „Bringen Sie ihn mir ins Büro. Ich muss noch arbeiten.“ Er warf seiner Gattin und seinen beiden Töchtern einen kurzen Blick zu. „Entschuldigt mich bitte.“

Und damit erhob er sich und verließ den Raum. Der Butler räumte Mr. Lamoures Gedeck ab. Mrs. Lamoure und Tanja aßen schweigend weiter, während Jenny vor ihrem Salat saß und wieder in ihre eigene Welt abtauchte. Warum nur kam sie sich in ihrer eigenen Familie ständig vor wie eine Außerirdische? Warum gab es niemanden, der sich für das interessierte, wofür ihr Herz brannte? War es nicht genau das, wofür eine Familie da sein sollte? Um sich gegenseitig zu unterstützen und zu ermutigen? Um füreinander da zu sein? Was nützte ihnen all der Reichtum, wenn sie als Familie immer weiter voneinander wegdrifteten wie Eisschollen auf einem endlosen Ozean?

War sie denn die Einzige, die merkte, dass sie sich fremd geworden waren? Dass ihr glamouröses Leben nichts als reiner Selbstbetrug war? Dass das Streben nach Ansehen und Wohlstand sie blind gemacht hatte für das, worauf es wirklich ankam im Leben?

Jenny lauschte dem Klappern des Silberbestecks und dem Ticken der großen Wanduhr. Sie blickte auf die manikürten Fingernägel ihrer Mutter, ihr goldenes Armkettchen, das sich beim Schneiden ihres Steaks an ihrem Handgelenk hin- und herbewegte. Sie folgte dem zerschnittenen Fleischstück zu ihren rot geschminkten Lippen, dann hinauf zu dem übertrieben aufgetragenen Lidschatten und der makellos sitzenden Frisur. Und auf einmal kam ihr das alles so unecht vor. Und so bedeutungslos. Sie hatte das Leben, von dem andere nur träumten. Sie hatte einen eigenen Fernseher in ihrem Zimmer, ein Dienstmädchen, Eltern, die ihr jeden materiellen Wunsch erfüllen konnten. Und doch kam sie sich vor wie ein eingesperrter Vogel in einem goldenen Käfig. Sie war eine Lamoure. Aber manchmal wünschte sie sich, sie wäre einfach nur ein ganz gewöhnliches Mädchen. Und gerade jetzt wünschte sie es sich so sehr, dass es in ihrem Herzen wehtat.